Augmented Reality: ein etabliertes Tool, nicht nur im technischen Kundendienst.

veröffentlicht am 13.04.2022

Praktische Anwendungsbereiche

Die zunehmende Digitalisierung von Geschäfts- und Produktionsprozessen gilt für Unternehmen heutzutage als wesentlicher Erfolgsfaktor. Die laufende Entwicklung der Industrie 4.0 wird sich durch eine flexible, kostengünstige und kundenorientierte Produktion in Zukunft als wettbewerbsentscheidend erweisen. Doch auch andere Unternehmensbereiche, wie Service-Organisationen, können technologische Trends nutzen, um neue Geschäftsmodelle und Dienstleistungen zu entwickeln. Ein wichtiges Ziel ist hierbei die schnelle und zielgerichtete Bereitstellung von digitalen Informationen und Wissen, um den Kunden vor und nach dem Kauf bestmöglich zu begleiten.

Eine weitere Dienstleistung für Kunden sind Schulungen und Weiterbildungen zu produktbezogenen Themen. Hierbei geht es nicht unbedingt darum, persönliche Schulungen zu ersetzen, sondern Abläufe zu digitalisieren, welche eine komplexe Abfolge der immer gleichen Schritte beinhalten. Beispielsweise kann die Inbetriebnahme nun mit Hilfe eines Tablets von ungeschultem oder unerfahrenem Personal durchgeführt werden, indem der Mitarbeiter die Anweisungen über AR und Bilderkennung direkt angezeigt bekommt. Somit braucht man weniger qualifiziertes Personal für einfache Tätigkeiten und spart hierbei Kosten.

Eine weitere gängige Praxis bietet der AR gestützte Service. Gerade im Field Service geht es oftmals darum, die entstehenden Kosten und die Bearbeitungszeit, bei hoher Bearbeitungsqualität, möglichst gering zu halten. Dabei ist es trotzdem von großer Bedeutung, dass die Mitarbeiter ihre Leistung bestmöglich einsetzen, um die Funktion der Anlage über einen langen Zeitraum sicher zu stellen. In diesen Bereichen ist Erfahrung von großer Bedeutung und dementsprechend bei komplexen Arbeiten unverzichtbar.

Anwendungen bei produktbegleitenden Services

Die erweiterte Realität begünstigt vor allem die Montage und Instandhaltung von komplexeren Produkten, wie etwa industrieller Maschinen.

Mobile Endgeräte wie Smartphones, Tablet PCs und Smart Glasses können den Service-Techniker im Feld mit Wissen unterstützen, indem an der richtigen Position jeweilige Arbeitsschritte, Maschinendaten und sogar innere Aufbaupläne gezeigt werden, was zu einer präzisen und schnelleren Montage oder Wartung führen kann.

Beim Remote-Service werden fachkundige Service-Experten anhand von Livebildern Fehlerquellen diagnostizieren und Lösungen vorschlagen können, ohne dabei vor Ort zu sein. Durch die aktive Unterstützung des Kundenservice (Helpdesk) mit Fachwissen in AR können die Mitarbeiter der Kundschaft dann beispielsweise selbst für die Instandhaltung sorgen, was eine kostspielige Anreise und Beherbergung von externem Personal des Herstellers verhindert.

Bei vorhandener Hardware auf Kundenseite lassen sich Problemlösungsprozesse vollständig digitalisieren und Abhilfemaßnahmen rapide umsetzen. Durch AR-Dateien können zu jedem Produkt, jeder Wartung und jeder Fehlerquelle Fallszenarien entwickelt werden, welche visuell dargestellt werden. Mithilfe klarer Anweisungen in Echtzeit können dann auch Mitarbeiter ohne entsprechendes technisches Know-How Schritt für Schritt Arbeiten an der Maschine durchführen. Diese Falldateien können zum Beispiel in einer Datenbank oder Cloud angelegt und verwaltet werden. Mittels Data Mining werden dann Fehlerdiagnose und mögliche Bestandslösungen abgeglichen, um Kunden bei einer bestehenden Sofortlösung so schnell wie möglich zu bedienen.

In diesem Kontext können auch digitale Zwillinge eingesetzt werden, welche die digitale Kopie einer realen Anlage darstellen, mit deren Hilfe versteckte Informationen über die Anlage über AR-Technologie sichtbar gemacht werden und somit ein physischer Eingriff in eine Produktionsanlage nicht mehr immer notwendig sein muss.

AR hilft dabei den Besuch von einem zweiten Mitarbeiter mit sehr spezifischem Wissen zu vermeiden, indem wesentliche Informationen zum bearbeitenden Bauteil eingeblendet (z.B. Schaltplan, technische Zeichnung, etc.) oder markiert werden können. Darüber hinaus erfolgt eine effektive und einfache Kommunikation mit dem Experten über das AR-Gerät (z.B. Brille, Smartphone oder Tablet und Headset). Der Techniker, der Hand anlegen muss, bekommt alle relevanten Informationen angezeigt und in dem Fall, dass er eine Brille trägt, hat er die Hände frei zum Arbeiten. Das AR-System kann zudem auch noch erweitert werden bzw. Schnittstellen zu anderen Systemen aufbauen, indem z.B. bei einem defekten Bauteil der Lagerbestand mittels Brille abgefragt wird und ggf. ein Bestellvorgang angestoßen werden kann. Folglich dient diese Technik zu einer erheblichen Verkürzung des Reparatur- und Instandhaltungsprozesses.

Der AFSMI engagiert sich derzeit in mehreren Forschungsprojekten, in denen auch AR-Anwendungen relevant sind

  1. Projekt WizARd: Wissensvernetzung und Kollaboration durch die Anwendung erweiterter Realität (AR) in produktionsnahen Dienstleistungen; Weitere Informationen zum Verbundprojekt.
  2. Projekt SerWiss: Integrierte Geschäftsmodelle- und Arbeitsgestaltung für die internationale Bereitstellung und Vermarktung von Service-Wissen.

Weitere aufgezeichnete Webinare des AFSMI zu dem Thema AR

  1. Beispielhafte Darstellung der AR-Anwendungen in der Qualitätskontrolle und der Kundenberatung. Hierbei wurden auch die besonderen Herausforderungen und die Grenzen beim Einsatz einer HoloLens 2 von Microsoft aufgezeigt.

  2. Wie kann der Fieldservice von Datenbrillen profitieren? Die Geschichte einer Einführung in nur 90 Tagen bei der J. Wagner GmbH. Neben der rein technischen Komponenten ist das Einbeziehen der betroffenen MitarbeiterInnen als auch der Fokus auf die Kundschaft ein entscheidender Erfolgsfaktor zur nachhaltigen Einführung.

  3. Wie durch die Einführung von Remote Expert Support im Maschinen- und Anlagenbau Effizienz im Service gesteigert wird und neue Geschäftsmodelle ermöglicht werden.

  4. SMART Services wie Fernwartung, Predictive Maintenance oder Condition Monitoring werden von vielen Herstellern von Maschinen und Anlagen als Chance genutzt, um neues Umsatzpotential zu erschließen und die Kundenbindung zu erhöhen.

Hintergrund: Was versteht man unter Augmented Reality?

Unter dem Begriff „Augmented Reality“ (AR) versteht man eine computerunterstützte Darstellung, welche die reale Welt um virtuelle Aspekte erweitert. Mithilfe dieser Technologie lassen sich im Unternehmenskontext u.a. Kosten einsparen, Prozesse optimieren und sogar neue Geschäftsmodelle entwickeln.

Augmented Reality ist ein Teil der sogenannten Mixed Reality und hat eine klare Abgrenzung zur Virtual Reality, die sich vollständig in einer virtuellen Welt bewegt und die physische Realität gänzlich ausblendet.

Bei AR werden dem Nutzer, ergänzend zur Realität, erweiterte Informationen, Grafiken und Videosequenzen interaktiv und in Echtzeit zur Verfügung gestellt. Dabei kann sich der Nutzer mit AR in einem Raum bewegen, in dem virtuelle und physische Objekte koexistieren.

Funktionsweise und technische Voraussetzungen

Damit die Realität durch die Augmented-Reality-Anwendung mit weiteren Informationen ergänzt werden kann, muss zunächst die reale Umgebung erfasst werden. Hierzu kommt das sog. „Tracking“ zum Einsatz. Die Trackingsoftware ist in der Lage, die Umgebung des Nutzers zu erfassen und sie so umzuwandeln, dass die sog. Rendering Software die eigentlichen Ergänzungen einfügen kann. Je besser die Trackingsoftware die Umwelt erfassen kann, desto realer und genauer kann das Rendering erfolgen.

Man unterscheidet zwischen visuellem und nicht-visuellem Tracking. Der grundliegende Unterschied ist hierbei die Erfassungsmethodik. Bei einer nicht-visuellen Trackingsoftware kann die Umgebung über eine Vielzahl von Sensoren erfasst werden. Beispielsweise kann mit Hilfe von einem Kompass über das magnetische Erdfeld die Ausrichtung zu den Achsen erkannt werden. Ein GPS-System kann mit Hilfe eines satellitenbasiertes Ortungssystems die Position bestimmt werden. Ultraschallsensoren messen die Signallaufzeit zwischen Sender- und Empfänger und können somit den Abstand und die Position errechnen. Mit einem ähnlichen Prinzip arbeiten optoelektronische Sensoren (z.B. mit Infrarot). Eine weitere Erfassungsart stellt das LIDAR-RADAR dar, hierbei wird die Distanz zu Objekten der Umgebung durch Reflektion von Laserstrahlen ermittelt und so ein 3D-Modell der Umgebung entworfen. Dies wird aktuell bereits in Smartphones verbaut wie z. B. das iPhone 12 Pro und 13 Pro. Eine weitere Möglichkeit zur Positionsbestimmung bieten Trägheitssensoren, mit denen Neigungen und Beschleunigungen gemessen werden können. Um bei einem nicht-visuellem Tracking eine möglichst fehlerfreie Umfelderfassung durchführen zu können, sollte ein Zusammenspiel mehrerer Sensoren verwendet werden. Da dies trotzdem meist noch sehr fehleranfällig verläuft, verwenden die meisten Anwendung heutzutage ein visuelles Tracking. Dies erfolgt über eine verbundene/verbaute Kamera.

Das visuelle Tracking setzt sich aus zwei Hauptbestandteilen zusammen.

  1. Initialisierung: im Kamerabild wird ein Marker gesucht und darüber die Orientierung zum Marker berechnet.
  2. Verfolgung/Antizipation der Bewegung: das durch Bewegung verzerrte Kamerabild wird untersucht und damit wird der zu untersuchende Bereich bei erneuter Stabilisierung des Bildes eingeschränkt. Auch beim visuellen Tracking kann man zwischen zwei System unterscheiden: merkmalsbasiert und modellbasiert. Bei merkmalsbasierten Systemen erkennt die Trackingsoftware im Kamerabild einen Marker und kann dann die Kameraposition berechnen. Bei einer modellbasierten Software wird ein Referenzmodell mit der Kameraperspektive verglichen und anhand dessen die Position errechnet.

Hierfür ist allerdings eine extrem hohe Rechenleistung notwendig und die Fehlerrate ist bei solchen Anwendungen meist sehr hoch. Aufgrund dessen werden meist nur merkmalsbasierte Systeme verwendet. Als Merkmal werden Marker verwendet.

Marker sind zwei- bzw. dreidimensionale Objekte die aufgrund der einfachen Form leicht von der Kamera erkannt werden können. Beispielsweise werden häufig QR-Codes verwendet. Anhand dieser ist die Ausrichtung der Kamera leicht zu berechnen, wodurch das Tracking schneller erfolgen kann und damit auch die Gesamtleistung des Systems erhöht wird.

Beim Einsatz von mobilen Systemen, die gegenwärtig bei Unternehmen am beliebtesten sind, werden handelsübliche Smartphones, mithilfe von speziell dafür entwickelten Applikationen, genutzt. Hierbei ist eine einfache Nutzung von unterwegs über visuelles Tracking oder durch „Location-based Services“ möglich. Zudem ist der Einsatz durch Smartphones für ein Unternehmen kostengünstiger, da meist jeder Nutzer ein eigenes Gerät besitzt und somit der „Bring-your-own-device-Ansatz“ verfolgt werden kann. Unter allen Systemen ist bei der Verwendung von AR-Brillen das Nutzererlebnis am größten. Hierbei werden die virtuellen Elemente direkt über eine Brille auf das Sichtfeld des Nutzers projiziert. Diese Brillen sind mit Sensoren ausgestattet, die eine frei-händige Nutzung möglich machen und somit den integriertesten Service bieten. Beim Großteil der genannten Systeme ist jedoch eine zuverlässige und ausreichend stabile Internetverbindung nötig, um die virtuellen Informationen in Echtzeit übertragen zu können. Die Frage nach dem besten System lässt sich daher nur beantworten, wenn man den genauen Anwendungsbereich des Nutzers kennt.

Typisch sind in der Industrie momentan vor allem sogenannte Head Mounted Displays (kurz HMD), sowie eingeschränkte HMDs. Bei HMDs handelt es sich um direkt am Kopf des Anwenders getragene Displays, welche mit einer Kamera ausgerüstet sind und so ein reales Bild aufnehmen und anschließend mit einem Display im Sichtfeld des Anwenders darstellen können. Der Aufbau eines solchen HMD ähnelt einer herkömmlichen Brille, welche um ein dem Sichtfeld angepasstes Display erweitert wird. Dieses wird in der Regel transparent ausgeführt und kann somit virtuelle Objekte im realen Bild abbilden. Zusätzlich besitzen die Geräte mehrere Kameras, sowie weitere Sensorik in Form von Mikrofonen für Spracheingaben, sowie Räumliche Sensoren (meist Laser Entfernungsmesser) und Sensoren für das Eye-Tracking. Zusätzlich wird ein Prozessor sowie ein Akku für die Stromversorgung benötigt. Darüber hinaus ist eine sinnvolle Anwendung in der Praxis meist nur in Kombination mit einer Internetverbindung zum Datenaustausch machbar. Dies ermöglicht es der HMD Augmented Reality, also eine Erweiterung der Realität sinnvoll umzusetzen.

Eine weitere Umsetzungsform sind die eingeschränkten HMDs. Der Aufbau ist im Grundsatz ähnlich. Die Eingeschränkten HMDs verfügen auch über ein Display, und können mit den gleichen Sensoren ausgestattet werden. Im Unterschied zu HMDs haben eingeschränkte HMDs in der Regel ein kleineres Display und erweitern so die Realität durch eine kleine Einblendung im Sichtbereich des Anwenders. Die Vorteile dieser Technik stellen sich dabei vor allem in den kompakteren Geräten, bei je nach Anwendung ausreichenden Darstellungsmöglichkeiten dar.

Für die Praxis ist darüber hinaus die Umsetzung von AR auf sämtlichen mobilen Endgeräten interessant. Möglich wird dies durch moderne Smartphones bzw. Tablets, die über hochwertige Kameras sowie die nötige Sensorik zur Abstandseinschätzung wie z. B. das LIDAR-RADAR verfügen. Diese Technologie ist besonders für einfache Anwendungen mit geringen Anforderungen an das abgebildete AR-Erlebnis sinnvoll, bedingt allerdings auch wesentlich geringere Investitionen.

Über den Autor

Dieter Schönfeld; Vize-Präsident und Vorstand für Bildung und Forschung